In Teil 2 der Perspektiven-Serie wird es praktischer: wir werfen einen Blick auf ein paar im Drum & Bass geltenden Konventionen und die verschiedenen Strategien, die Musik trotzdem spannend zu halten.
Eine Gesellschaft konstituiert sich nicht zuletzt durch die Weitergabe ihrer Ordnung, als sinnstiftendes Prinzip ebenso wie einfach als Tool bestmöglich zu überleben. Jedoch lassen sich nicht nur Kulturen im größeren Sinne erfassen als Summe ihrer Lösungen und Lösungsansätze auf die Fragen des (Über-)Lebens, auch Musik definiert sich über die Antworten, die sie auf die eben musikalisch relevanten Fragestellungen (wie Tempo, Struktur, Emotion, Anlass etc.) gibt. Finden sich genug Menschen, die mit diesem besonderen Spektrum an Lösungen resonieren, werden die Prinzipien tradiert und es entsteht ein Genre. Aber es entsteht auch viel mehr: in jeder Solidifizierung von Ordnung zu Konvention steckt bereits der Geist der Erstarrung und der Dämon des Unnatürlichen, denn nichts auf dieser Erde darf je so bleiben wie es ist, ohne dass wir sofort vor Langeweile daran verstürben. Daher gilt es auch in der Musik stets einen kleinen Schritt weiter zu tun.
Sehen wir uns kurz die vorherrschenden Konventionen im Drum & Bass etwas genauer an: Das Tempo steht relativ stabil um die 170-175 BPM. Die Struktur eines Tunes folgt bis auf wenige Ausnahmen dem Intro – A (– B [- A]) – Mittelteil – A‘ (– B‘ [- A’]) Schema, wobei das Hauptgliederungselement letztlich der Subbass ist: reduziert auf den fundamentalsten Kontrast könnte man auch sagen:
Teil ohne Sub, Teil mit Sub, Teil ohne Sub, Teil mit Sub.
Der Grundton eines Stückes steht dabei meist bei F oder einem der nahen Töne – zum einen da sich der Bass erfahrungsgemäß da in den meisten Clubs am besten durchsetzt, zum anderen weil sein Grip auf den Körper da am wohligsten ist. Rhythmisch bedient man sich des Twostep-Patterns oder eines seiner Derivate; jedenfalls aber orientiert man sich am Offbeat der Snaredrum (- wie immer: meistens; aber dazu kommen wir noch).
Soweit die grundlegendsten Ordnungselemente. Dass sich der Fokus dabei hauptsächlich auf Drums und Bass richtet, legt ja schon der Name nahe. Immer noch auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer lautet die Frage daher: wie sich sinnvoll bewegen in den Grenzen unseres Genres und trotzdem stets den oben angesprochenen kleinen Schritt weiter tun, um der Langeweile und dem Epigonentum ein Schnippchen zu schlagen? Versuchen wir also, uns dem Mysterium ein wenig anzunähern; vielleicht können wir so nicht nur neue Perspektiven unserer Musikwahrnehmung erschließen, sondern auch den einen oder anderen Schaffensimpuls aufstöbern!
Ich vermute jeder Produzent hat früher oder später die Erfahrung gemacht, dass es die kleinen Imperfektionen sind, die die Musik (und das Leben) ausmachen. Das ‚Mathematisch-Schöne‘ (um es mit Kant zu sagen, auf den sich zu beziehen immer unglaublich gelehrig wirkt), d.h. die absolute Ordnung, erschöpft sich nur allzu schnell. Das Organische ist nie vollkommen. Vom Herzschlag des Menschen bis zur Drehung der Erde sind es die kleinen Ungereimtheiten, die diese faszinierende Reise, die man als Mensch unternimmt, ausmachen.
Rhythmisch lässt sich dieser Gedanke sehr schnell konkretisieren: Ein Twostep Pattern, millisekundengenau auf die richtigen Zählzeiten gelegt, versprüht ungefähr soviel Charme wie die Tagesschau im Ersten. Bereits eine kleine Adjustierung der zweiten Kick aber und schon öffnet sich der Groove wie die ersten zarten Knospen im März. Das folgenden Beispiel versucht den — zugegeben subtilen — Kontrast anhörlich zu machen:
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Freilich kann man diese Technik auch viel weiter treiben, wie Noisia und Former in ihrer neuesten Collab Pleasure Model eindrucksvoll vorzeigen. Nicht nur beweisen sie sich neuerdings als Innovatoren, indem sie in den Zeiten des aufblühenden Half Time DnB einen Schritt weiter zur Quarter Time gehen; die Setzung von Kick und Snare alleine ist ein gnadenloser Drahtseilakt mit dem 16-Tonner – der freilich immer um Haaresbreite gelingt.
Auch in punkto Bässen und Mittengestaltung sind es die kleinen Ungereimtheiten, die das Abenteuerliche vom Trivialen und das Interessante vom Plakativen scheiden. Ridos Klassiker Exoplanet beispielsweise ist ein regelrechtes Lehrstück in punkto filigraner Setzung und Versetzung von Sounds.
In einer tonal zugegeben limitierten Musik wie Drum & Bass ist die Gestaltung der Melodie eine der größten Herausforderungen. Stets befinden wir uns dabei im Spannungsfeld von Konvention und Innovation, und nicht selten kommt es auf die Ebene an, auf der musikalische Fragestellungen letztlich gelöst werden: in ähnlicher Manier wie das knapp 500 Jahre alte Motiv des fallenden Lamento-Basses finden sich halbtonweise deszendierende Motive von Ed Rush bis zu den Upbeats. Doch trotz dieser offensichtlichen Gemeinsamkeit bietet jedes dieser Stücke dennoch einen individuellen Zugang und damit eine in sich schlüssige Antwort:
Dass man schließlich der Konvention auch wagemutiger begegnen kann, beweist uns immer wieder aufs neue der gute Herr Misanthrop, der in feiner deutscher Ingenieursmanier nicht einmal davor zurückschreckt, den bis dato sakrosankten 4/4 Takt einfach in 9/8 + 7/8 zu zerlegen – mit bahnbrechenden Auswirkungen. (Es hätte uns auch nicht so verwundern sollen wie es dann — zugegeben — doch tat als wir mit allen anderen hilflos Ausgelieferten vollends die Ruhe verloren, damals, seinerzeit…)
Freilich sind die Gefahren, die rein musikalisch auf uns lauern, wenn wir den Geist der Progression unserem Wunsch nach Sicherheit opfern (denn das scheinbar etablierte, funktionierende, radiiert immer eine solche Aura der Geborgenheit), überschaubar; insbesondere wenn man sieht, wie schnell sich ein ähnlicher Wunsch nach sicherheitsstiftender Struktur auf zivilisatorischer Ebene zur Tyrannei pervertiert. Aber letztlich ist es ja nicht nur die Sicherheit, die wir uns alle — verständlicherweise — wünschen, sondern Sinn nach dem wir streben. Eine lebendige Musikkultur aber muss immer wieder ersteres Verlangen ein bisschen über Bord werfen, um sich vollends in ihrer sinnschaffenden Manier entfalten zu können. Das ist die Natur des Abenteuers.
Unseren kleinen Reigen aus der Überfülle an dem, was es zu zeigen und hören gäbe, beschließend, würde ich noch gerne auf die Partial Serie auf Noisias Label Division Recordings verweisen. Deren Ziel scheint vor allem, zu demonstrieren, dass man auch abseits des Erwarteten und doch innerhalb der Grenzen unseres Genres faszinierend Neues schaffen kann. Zwar überzeugen wenige der veröffentlichten Lieder auf ganzer Länge und auch produktionstechnisch gibt es mitunter noch ein wenig Luft nach oben. In punkto Originalität aber sucht die Serie meiner Ansicht nach momentan ihresgleichen, und ist definitiv wert gehört (und studiert 😉 ) zu werden.
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